Interview mit Kathrin Seemann

Kathrin Seemann
Greifswalder Netzwerk Kind – Familie – Sucht
Fachambulanz für
Alkohol- und Drogenkranke                                                                          
Friedrich-Loeffler-Straße 13a
17489 Greifswald
Tel.: 03834-89 92 35

Können Sie uns am Anfang ein wenig zu Ihrer persönlichen Berufsbiografie erzählen und wie Sie nach M-V gekommen sind? 

Ich bin in Greifswald aufgewachsen und habe nach meinem Abitur auch hier an der Universität studiert. Damals gab es noch die Magisterstudiengänge und so habe ich zwei Hauptfächer belegt, Erziehungswissenschaft und Sportwissenschaft. Im Fach Erziehungswissenschaft hatte ich den Schwerpunkt Sozialpädagogik mit dem Fokus Prävention und Beratung im Gesundheitsbereich. Und parallel zu meinem Hauptfach Sportwissenschaft qualifizierte ich mich zur Bewegungs- und Sporttherapeutin für Suchtkrankenhilfe, Psychiatrie und Psychosomatik. Über diese Qualifizierung habe ich dann 2001 als Mitarbeiterin in der Fachambulanz angefangen, wo ich nach meiner berufsbegleitenden Ausbildung zur Suchttherapeutin 2005 die Leitung übernommen habe. Über zahlreiche Zusatzqualifizierungen habe ich unter anderen auch eine Trampolin-Trainerinnenausbildung (Präventionsprogramm speziell für Kinder aus suchtbelasteten Familien) abgeschlossen. In meiner gesamten Familie sind pädagogische Berufsbiografien vertreten und wenn ich nicht diesen Weg gewählt hätte, wären ein Jurastudium oder ein Arbeitsfeld im Kontext mit minderjährigen Müttern interessante Alternativen gewesen.    

Wie können wir uns Ihr Arbeitsfeld bezogen auf unsere Thematik vorstellen, und wo sind Sie in M-V verortet?

Unsere Fachambulanz befindet sich in Greifswald, unser Versorgungsgebiet für den Bereich Kinder suchtbelasteter Familien umfasst jedoch den gesamten Landkreis Vorpommern-Greifswald. Unser Träger ist seit 1990 der Förderverein für Suchtkrankenhilfe e. V. in Greifswald.
Mit Übernahme der Leitung habe ich mit meinem Team aus den Erfahrungen heraus den Fokus verstärkt auf das gesamte Familiensystem gelenkt. Das bedeutet, dass wir z. B. die gesamte Einrichtung kindgerecht umgebaut und gestaltet haben. Viele entsprechende Kinder- und Jugendbücher und geeignete Materialien zur Thematik stehen zur Verfügung. Dadurch können die Familienmitglieder bedarfsgerecht informiert und unterstützt werden. Wir nehmen die erziehungsberechtigte Person zuerst als Mutter oder Vater wahr und nicht als das erkrankte Elternteil. Wir sehen und begleiten die Kinder über lange Zeiträume und merken auch bei zufälligen Treffen, dass sie uns grüßen und viel Vertrauen entgegenbringen. 

2009 wurden wir angefragt, ob wir nicht auch ein Netzwerk Kind-Familie-Sucht, ähnlich wie es dieses in Rostock gab, bei uns in der Region aufbauen wollen. Durch diesen Impuls haben wir unsere bestehenden Kooperationen weiter ausgebaut. Wir betreuen jetzt unter anderem Familien, deren Kinder erst zwei, drei Tage alt waren und beispielsweise Entzugssymptome nach der Geburt zeigten, aber auch ältere Kinder, die eine Belastung erleben durch den Suchtkonsum der Eltern. Wir begleiten viele unterschiedliche Familienformen: Kinder, die bei den leiblichen Eltern leben, Patchworkfamilien, Adoptiv- oder Pflegeeltern vor allem mit Kindern, die eine Fetale Alkoholspektrum-Störung (FASD) aufweisen, aber auch Kinder, die in Betreuten Wohnformen aufwachsen.

Wir sind ein Team von fünf hauptamtlichen Mitarbeiter*innen - Fachkräfte der Psychologie und der Sozialpädagogik mit den verschiedensten Zusatzqualifizierungen. Zusätzlich sind für den Förderverein stundenweise ein Arzt und eine Ärztin mit angefangener bzw. abgeschlossener Facharztausbildung für Psychiatrie und Psychotherapie tätig. 

In unserem Team gibt es eine hohe Verbundenheit und eine große Stabilität, was sich letztlich auf die Qualität unserer Angebote niederschlägt, vor allem in der Beziehungsarbeit mit den Familien.     

Was sind die Hauptanliegen Ihrer Beratungsstelle bezogen auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen in belasteten Familien?

Es ist wichtig, eine vertrauensvolle Umgebung zu schaffen. Wir müssen viele Ängste und Unsicherheiten nehmen, um Druck abzubauen und erst einmal ganz individuell mit jeder Familie schauen, welche Bedürfnisse und Anliegen zuallererst wichtig sind. Vor allem materielle Nöte stehen oft am Beginn einer Begleitung. Das bedeutet, genau abzuwägen, was die Familie jetzt am meisten belastet. Die Belastungen durch Suchtmittel oder psychische Erkrankungen bedingen sich häufig mit existentiellen Sorgen. Ob es dann im Weiteren um eine Beratung, eine Reha oder die Vermittlung in eine Selbsthilfegruppe geht, ist sehr unterschiedlich. Wir pflegen enge Kooperationen mit vielen Institutionen und dienen häufig als Lotse, z. B. zu Schuldnerberatungen. 

In erster Linie arbeiten wir mit einem niedrigschwelligen Zugang und versuchen, bei der Vermittlung zu anderen Beratungsstellen diesen ebenso zu gewährleisten. Grundsätzlich erfolgt bei einer krisenhaften Anmeldung immer ein Erstkontakt innerhalb von ein bis zwei Tagen.
Da es im Landkreis keine weiteren spezifischen Angebote für Kinder suchtbelasteter Familien gibt, versuchen wir auch immer Regionen übergreifend zu denken. Ziel ist es, Familien auch in Penkun, Eggesin und Löcknitz Angebote zu ermöglichen. Vor allem der Kontakt zu den Kitas, Schulen und den Schulsozialarbeiter*innen sind enorm hilfreich. 50 – 60 Veranstaltungen führe ich im Jahr an Schulen durch. Und darüber werden ganz wichtige Zugänge ermöglicht. Für die Schüler*innen bedeutet es, dass sie mich (Frau Seemann) vom Projekttag schon kennen und dann in der Beratungsstelle wieder treffen. Da wir es in unserem Themenfeld mit ganz viel Scham- und Schuldgefühlen zu tun haben, ist dies unheimlich wertvoll. 

Wer gehört dabei zu Ihren Netzwerkpartner*innen konkret in M-V bzw. mit wem arbeiten Sie zusammen? 

Zu unserem Netzwerk gehören die Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt, das Jugend- und das Gesundheitsamt Sitz Greifswald, Schulsozialarbeiter*innen, Familienhelfer*innen, Straßensozialarbeiter*innen, eine niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und viele weitere. Wir treffen uns einmal im Quartal und bilden anlassbezogene zusätzliche Arbeitsgruppen, z. B. für die Planung von Ferienangeboten. Wir arbeiten vor allem sehr praktisch und lösungsorientiert zusammen und versuchen zu schnellen Ergebnissen zu kommen. Ebenso stehen wir im engen Austausch mit den Mitarbeiter*innen der Universitätsmedizin Greifswald und des Helios Hanseklinikums Stralsund bei allen Fragen zu Rooming- In Lösungen bei stationären Aufenthalten in der Psychiatrie. 

Zusätzlich sind wir aktiv in den Arbeitsgruppen der Lako KipsFam und arbeiten auf Landesebene mit der LAKOST MV zusammen.  

Welche Herausforderungen erleben Sie in Ihrem Arbeitsalltag in der Arbeit mit psychisch und/oder suchtbelasteten Familien bezogen auf unser Bundesland?

Zum einen die Versorgung in der Fläche und die unklare Finanzierung, die häufig erst im laufenden Jahr bestätigt wird. Vorher ist es immer ein Beginn auf Vorkasse. So gibt es also auf unserer Seite eine herausfordernde Finanzierungssituation für den Träger, und diese trifft auf eine häufig schwierige Finanzlage bei den Eltern. Auch fehlende personelle Ressourcen im ländlichen Raum, vor allem bei Freizeit- und Sportangeboten, sind häufig eine Hürde. Auf den Dörfern fehlt es somit an wichtigen weiteren Ansprechpartnern vor Ort für die Kinder und Jugendlichen, wie z. B. Jugendclubs. Der Landkreis ist einfach von den Entfernungen her sehr groß, was häufig ein Scheitern für Gruppenangebote bedeutet. Eine Fahrt von Greifswald nach Penkun dauert mindestens 1,5 Stunden. Ein weiterer Fakt ist auch, dass viele unserer Familien, vor allem in Greifswald, Sorge um die so wichtige Anonymität haben. Wir müssen also überlegen, wie setzen wir Angebote, bezogen auf die Anforderungen hinsichtlich der Fragen „Wo braucht man es?“ und „Wie machen wir es dann?“, um. Wir werden in den nächsten Jahren vor allem Methoden und Elemente aus der Erlebnispädagogik integrieren.

Welche Praxiserfahrungen haben Sie bezogen auf die Thematik unseres aktuellen Newsletters in der Arbeit mit Geschwistern?

Die allermeisten unserer Familien haben mehrere Kinder. Das Geschwisterthema ist sehr präsent. Einige der betreuten Kinder leben allerdings nicht in der Häuslichkeit, sondern in unterschiedlichen Settings mit häufigen Wechseln. In Bezug auf Geschwisterbeziehungen geht es immer schnell um das Thema der Verantwortungsübernahme, vor allem für jüngere Geschwister. Vor allem die Kinder und Jugendlichen, die in Wohngruppen leben, thematisieren ihre Sorgen um die Geschwister, die im elterlichen Haushalt leben. Gerne sehen wir die Geschwister zusammen in der Beratung. Es werden dann weniger die Sorgen thematisiert, sondern die Gestaltung von Geschwisterlichkeit an verschiedenen Orten, die Sehnsucht und die unterschiedlichen Bedürfnisse. Mit den älteren Geschwisterkindern erarbeiten wir teilweise Notfallpläne für Rückfälle bei den Eltern, z. B. in sogenannten nassen Phasen bei Alkoholsucht. Herausfordernd für die Kinder sind vor allem aber der Konsum illegaler Substanzen, da sie das Verhalten des konsumierenden Elternteils viel schwieriger wahrnehmen können und eine gewisse Sichtbarkeit fehlt. Eine große Belastung für die Geschwisterbeziehung stellen Beziehungsabbrüche durch wechselnde Partnerschaften der Eltern oder veränderte Settings, wie z. B. das getrennte Aufwachsen bei Pflegestellen oder in Wohngruppen, dar.  

Gibt es aus Ihrer Sicht gelungene Praxiserfahrungen aus Ihrem Arbeitsumfeld für die Zielgruppe der Landeskoordination?

Über unser Netzwerk- Kind-Familie-Sucht habe ich bereits berichtet. Die wichtigste Erkenntnis ist, von Beginn an auch immer nach den Kindern und Rahmenbedingungen zu fragen. So war es z. B. für eine Kita-Leiterin hilfreich, bereits im Aufnahmebogen der Kita festzuhalten, ob Hilfen in der Familie sind. Wird dies erst zum späteren Zeitpunkt gefragt, verunsichert dies Eltern häufig sehr. Eine weitere wichtige Praxiserfahrung ist, dass man die Eltern dort abholen muss, wo sie stehen. Das bedeutet zum einen örtlich und zum anderen vor allem auch mental. Somit können wir viel individueller herausfinden, was gerade die wichtigsten Grundbedürfnisse sind aus Sicht der Familienmitglieder.   

Was wünschen Sie sich für die nächsten Jahre für ein gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen aus psychisch und/oder suchtbelasteten Familien in unserem Bundesland?

Ich wünsche mir vor allem im Sinne unserer Familien verlässliche Strukturen, vor allem in Krisensituationen. Weiterhin benötigen wir eine flächendeckende Angebotsstruktur mit gut ausgebildeten praxisorientierten Multiplikatoren in den Regionen. Eine verbesserte Öffentlichkeitsarbeit ist dringend notwendig und mehr ergänzende Angebote an Schulen oder in Jugendtreffs. Vor allem wünsche ich allen Kindern das Gefühl, in schwierigen Situationen nicht alleine sein zu müssen.  

Herzlichen Dank, liebe Frau Seemann, für Ihre Zeit und das angenehme Gespräch!   

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