Geschwistererlebnisse sind sehr persönliche und stark emotional besetzte Lebenserfahrungen. Während der Kindheit erfolgt auf dieser Ebene parallel zu den Eltern eine eigenständige Sozialisation. Die Frage nach Geschwistern in einer beliebigen Runde kann zunächst jeder beantworten, selbst die verneinende Antwort ermöglicht einen Kontext.
Die Geschwisterbeziehung stellt eine höchst individuelle Erfahrung in der Kindheit von Menschen dar und wird im Kontext der Primärsozialisation auch als eigenes Subsystem innerhalb der Familie gesehen. In ihr kann man sich verhalten, wie in einem eigenen Kosmos in Abgrenzung zur Erwachsenenwelt.
In ihrer Beziehungserfahrung sind Geschwister privilegiert für das Trainieren des Balanceaktes zwischen Autonomie, Individualisierung und Verbundenheit. Alles ist gleichzeitig da. Es besteht eine Dialektik von Bindung und Autonomie. Diese multiple wechselseitige Beeinflussung weist einen hohen Komplexitätsgrad auf. Geschwister unterscheiden sich voneinander und sind sich ebenso ähnlich. Dieses besondere Band ist eine eigenständige Lebenserfahrung, das auf der horizontalen interpersonellen Ebene verbindet. Sowie auf der horizontalen Ebene die Eltern in Beziehung stehen, ist es ebenso bei den Geschwistern.
Als Ziel in dieser Erfahrung gilt es, „Im anderen das Fremde und das Gleiche zu finden, anzuerkennen und miteinander zu versöhnen“ (Sohni 2004, S.17).
In der Geschwisterbeziehung kommt es in der Lebensspanne zu Veränderungen, zu Herausforderungen und zu neuen Integrationsprozessen. In einem interpersonellen Verständnis finden Individualisierung und Beziehungsfähigkeit als parallele Erfahrungen der Geschwister statt.
Die meisten Menschen werden allerdings bei der Frage nach Geschwistern eine bejahende Antwort geben, wobei je nach Kulturkreis die Anzahl und die als zu berücksichtigende Personen sehr unterschiedlich sein können. Was die Beantwortung der Frage in jedem Fall bewirkt, ist eine Gleichzeitigkeit von Fakten, Erfahrungen und Emotionen. Eine Auseinandersetzung mit der Thematik ist aus so verschiedenen wie komplexen Perspektiven möglich. Allein Geschwister im Kontext von Mythologie, religiösen Schriften, der Kunst, der Musik, der Literatur, Filmen oder auch berühmter Geschwister aus den Medien sind immer Ausdruck eines jeweiligen kulturellen und sozialen Codes, der unterschiedlichste Zugänge ermöglicht.
Laut dem Familienreport lebten im Jahr 2016 in Deutschland 23 Millionen minderjährige Kinder. 64,4 Prozent hatten ein Geschwisterkind, 26 Prozent zwei Geschwisterkinder und 10 Prozent lebten mit drei oder mehr Geschwistern. 26 Prozent wuchsen zum Zeitpunkt der Erhebung ohne ein Geschwister auf. Zum Vergleich vor 20 Jahren sind die bis auf die Zahl der Einzelkinder (1997 25,2 %) relativ stabil. 74 Prozent der minderjährigen Kinder leben in Deutschland mit Geschwisterkindern einem Haushalt.
Für einen Definitionsbezug sind verschiedene Blickwinkel möglich. Völkening verweist aus Forschungsperspektive auf vier mögliche Kontexte. Erstens benennt sie die biologische Definition, die die genetische Abstammung als Definitionsmerkmal für Geschwister wählt. Zweitens erfolgt eine Einbettung in eine juristische Definition, die sie aus § 1307 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) herleitet.
Die soziokulturelle bzw. ethnologische Definition sehen Geschwister als soziale Gruppe und gesellschaftliches Produkt sozialhistorischer Prozesse. Und als letzte Kategorie erfolgt die Einbettung in die individualpsychologische und soziologische Definition, die vor allem die persönlichkeitsprägenden Faktoren von Geschwistern zentriert (vgl. Völkening 2015, S. 18 ff.).
Es gibt heute eine Vielzahl an Geschwistergraden. Diese neuen Geschwisterkonfigurationen müssen bei einer hilfreichen Definition Berücksichtigung finden können. So gibt es Halb-, Stief-, Pflege-, Adoptiv- und Patchworkgeschwister oder auch Geschwister auf Zeit. Diese Art der Herangehensweise, die sowohl die Identifikation als auch eine Beziehungsdynamik in unterschiedlicher Verortung einschließt, wird die Definition von Manfred Cierpka gerecht „Kinder in einer Familie sind Geschwister “ (Cierpka 2001, S.441). Der gleichen Weise oder Haltung entspricht ebenso das indonesische Wort für Geschwister unterschiedlicher Grade mit „Saudara Tiri“ (Sohni 2011, S.36).
Begriffe wie Geschwistermerkmale, Geschwisterreihenfolge, Geschwisterlichkeit, Geschwisterbindung, Geschwisterkonstellationen, Geschwisterbeziehungen, Geschwisterdynamik oder auch Geschwistersozialisation verdeutlichen die Einbettung und Vielschichtigkeit allein im sozialwissenschaftlichen Diskurs. Grundsätzlich sind mit dem Begriff Geschwister immer Verknüpfungen verbunden, die nie eine Person allein betreffen.
Da die Erfahrungen mit Geschwistern selbst in einer Familiengeneration subjektiv unterschiedlich erlebt werden, können allgemeingültige Strukturmerkale wie Geschlecht der Geschwister, Geburtsrangplatz oder Geschwisteranzahl mögliche Strukturgeber sein. Allgemeingültige Daten, die eine Validität garantieren, ergeben sich dennoch kaum. So ist vor allem die geschwisterliche Beziehungsebene in der Kindheit und Jugend in der elterlichen Rahmung mit all ihren Herausforderungen identitätsstiftend.
In Geschwisterbeziehungen können unterschiedliche Qualitäten aufweisen. So stehen einerseits Nähe, Verbundenheit und Unterstützung zur Verfügung und andererseits können Konflikte, Spannungen und Rivalitäten zu zusätzlichen Belastungen werden. Anhand zahlreich durchgeführter Interviews stellt Frick unterschiedliche Faktoren für nahe oder distanzierte Geschwisterbeziehungen heraus (vgl. Frick 2015, S.339 ff.).
In den letzten zehn Jahren sind im Rahmen der Geschwisterforschung sowohl in der sozialpsychiatrischen Familienforschung am Beispiel Kinder psychisch kranker Eltern als auch in der psychosozialen Resilienz- und Risikoforschung eine Fülle an empirischen Untersuchungen angeschoben worden. Da im Kindes- und Jugendalter vor allem präventive Zugänge zu Belastungen in der Kindheit zunehmen, hat die Präventionsforschung hier auch immer ein sozialpolitisches Mandat. Zu nennen sind vor allem die Ergebnisse von Witte (2018) zu Geschwistern im Kontext von Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung, das Wissen um Geschwister im Rahmen der Fremdunterbringung in SOS- Kinderdörfern von Petri, Radix und Wolf (2012), die Resultate von Knecht (2016) zu Geschwistern von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen und die wichtigen Ableitungen anhand empirischer Belege aus der Retroperspektive erwachsener Geschwister psychisch Erkrankter (Munkert 2008, Brock 2015, Peukert 2017, Hausschild 2019). Klaus Wolf resümiert im Hinblick auf offene Forschungsschwerpunkte und Fragen, dass zwar theoriegestützte Rahmenkonzepte zur Geschwisterlichkeit vorhanden sind, aber weiterhin keine Theorie der Geschwisterbeziehungen vorliegt und plädiert für mehr Forschung, die multiperspektivisch verankert ist (vgl. Wolf 2012, S.142 ff.).
Was bei Wolf als zu beackernde Landschaft in der Forschung gilt, ist für Sohni das neu zu betretende Gelände in Beratung und Therapie.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Beziehung von Geschwisterkindern in Familien mit psychischen Belastungen wenig erforscht.
Im Rahmen von Beratungs- und vor allem Behandlungskontexten sind die Geschwister selten eine Zielgruppe (vgl. Kuschel u.a.2016, S. 250).
Letztlich bleibt also auch die Frage nach dem Hüter der Aufrechterhaltung der Ressourcen bei Geschwistern zur Verinnerlichung, Akzeptanz und Bewältigung als Angehöriger. Es ist ein erneuter Balanceakt zu meistern, um alle Belastungen, die mit einer psychischen Erkrankung innerhalb der Familie einhergehen im Rahmen von psychischer Gesundheit. Da vor allem das Ausbalancieren von Ambivalenzen und die Gleichzeitigkeit entgegengesetzter Gefühle als Merkmal für Geschwisterbeziehungen gelten, ist dies eine möglicher Ansatz für protektive psychosoziale Beratung.
Sicherlich wird es viele Geschwisterbeziehungen und Familiensysteme geben, die aufgrund einer innewohnenden Familiendynamik und guter sozialer Netzwerke ausreichend Geduld, Wissen und Selbstvertrauen als gelingende Bewältigungsstrategien mitbringen.
Stehen diese Ressourcen aber nicht so zur Verfügung, dass eine Entlastung auf Dauer erlebt wird, müssen psychosoziale Unterstützungsangebote in den verschiedensten Behandlungs- und Betreuungssettings den Kompass zeitweise ersetzen.
So kann zunächst eine Beratung, die selbst einen indirekten Geschwisterbezug ermöglicht, protektiven Charakter im Rahmen der Entlastung haben. Ein wichtiger Teilaspekt für die Motivation von frühzeitiger Beratung ist, dass das Fenster zum vorbeugenden Schutz vor der Entwicklung chronifizierter Belastungszustände eindeutig im Kindes- und Jugendalter liegt. Die Geschwisterbeziehungen als Ressource in der Begleitung von Familien zu begreifen kann unter anderem durch kindgerechte Psychoedukation, Empowerment und präventive Beratungskonzepte gelingen. Durch Integration der Geschwistersensibilisierung in vorhandene Versorgungsstrukturen können somit verbesserte zielgruppenspezifische Angebote entwickelt werden.
Verfasserin:
Franziska Berthold, Projektmitarbeiterin KipsFam
Quellen: