Kinder brauchen Offenheit – das war die zentrale Forderung von Regisseurin und Produzentin Andrea Rothenburg auf dem Fachtag „Wo bist du?“ am 20. September 2023 in Parchim. Vor 130 pädagogischen Fachkräften aus dem ganzen Bundesland hat sie einen Einblick in ihre Arbeit gegeben und damit auf Kinder aus psychisch und suchtbelasteten Familien aufmerksam gemacht.
„Kinder, die beispielsweise einen Suizidversuch der Mutter oder die Alkoholsucht des Vaters erleben, müssen dringend mittherapiert werden“, betonte die Filmemacherin. „Allerdings werden sie oft übersehen werden.“ Rothenburg weiter: „Wir alle müssen diesen Kindern offen gegenübertreten, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Das kann eine große Erleichterung bringen.“ Um den Gästen einen Eindruck davon zu geben, wie Kinder die Erkrankung ihrer Eltern erleben, zeigte sie unter anderem ihren Film „Wo bist du?“.
Die Dokumentation sollte Vorurteile abbauen und für Verständnis sorgen. Herzstück des Films, wie auch weiterer Arbeiten von Andrea Rothenburg, sind Erfahrungsberichte von Betroffenen: Unkommentiert lässt sie immer wieder Kinder psychisch belasteter Eltern oder erkrankte Väter und Mütter zu Wort kommen. Eine von ihnen ist Verena Klose.
Verena Klose ist bipolar, also manisch-depressiv. Und Mutter von zwei Söhnen. Auf dem Fachtag hat sie ihre Geschichte vorgestellt und ihre „Biografiekiste“ präsentiert: Kompakt verstaut in einem Karton erklärt diese ihr Leben – von Schicksalsschlägen wie sexuellem Missbrauch und Todesfällen in der frühen Kindheit, über die Depression des Vaters bis hin zur eigenen Bipolarität und Mutterschaft. Wichtig war Verena Klose der doppelte Boden der Kiste, der sie vor dem schwarzen Loch der Erkrankung bewahrt und ihr soziales Netz symbolisiert. Ein ergreifender Moment: In einem kurzen Video – ein weiterer Filmausschnitt von Andrea Rothenburg – beobachteten die Anwesenden, wie Verena Klose mit ihrem Sohn über ihre Erkrankung spricht. Er und sein Bruder haben im Alter von vier und acht Jahren von den psychischen Problemen der Mutter erfahren.
Filmemacherin Rothenburg plädiert dafür, Kinder möglichst zu Beginn einer Erkrankung einzubeziehen und aufzuklären: „In Familien, in denen nicht gesprochen wird, gibt es eine hohe Belastung. Kinder merken immer, dass etwas nicht stimmt. Wenn dann nicht geredet wird, besteht die Gefahr, dass sie denken: Es liegt an mir.“
Um belastete Kinder unterstützen zu können, sollten ihrer Meinung nach auch Fachkräfte an Schulen sensibilisiert werden. Diesen Ansatz verfolgt das Präventionsprojekt „Verrückt? Na und!“, das in MV an vielen Schulen umgesetzt wird. Anke Wagner vom Landesverband Sozialpsychiatrie MV stellte das Programm auf der Tagung vor.
Das Thema in die Schulen tragen und betroffene junge Menschen erreichen: Dieses Ziel hat auch Regisseur David Stöhr, der auf dem Fachtag sein neues Theaterstück "Nicht von dieser Welt" vorstellte. Darin wird die Geschichte von Major Tom beschrieben, der Astronaut werden will. So möchte er seinem Leben auf der Erde entfliehen, das von seinen psychisch kranken Eltern geprägt ist. Es werden verschiedene Szenarien durchgespielt, die auf Erlebnisberichten aus Stöhrs Bekanntenkreis beruhen. Das Stück ist eine Kooperation zwischen dem Jungen Staatstheater Parchim, dem Landkreis Ludwigslust-Parchim und der GKV und wird am 23. September uraufgeführt.
David Stöhr ist studierter Psychologe und Schauspielregisseur und erarbeitet regelmäßig in psychosozialen Zentren Theaterstücke.
Andrea Rothenburg ist erste Vorsitzende des Vereins Psychiatrie in Bewegung e.V. und hat als Projektbeauftragte für Kinder psychisch erkrankter Menschen im Psychiatrischen Krankenhaus Rickling gearbeitet. 2020 wurde sie für ihre Arbeit von der DGPPN (Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) mit dem Anti-Stigma-Preis ausgezeichnet.